Sonne stillst die wunde Pein
Sonne stillst die wunde Pein
und enttauchst dem Herzen mein
jene Sonnenglutes Macht,
die den Mensch zum Schöpfer macht.
Annette Goepfert
Ich glaube an das Alter
Und dann eines Tages alt sein
Und noch lange nicht alles verstehen, nein,
aber anfangen, aber lieben, aber ahnen,
aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem,
bis in die Sterne hinein!
Rainer Maria Rilke, an Arthur Holitscher am 13. Dezember 1905
Sternenaugen
Ist es mutig, zuzugeben
dass ich mich manchmal wirklich traue,
mich darüber zu wundern und mich zu fragen,
ob unsere Augen wohl ein weiteres Zuhause
in den großen Sternenbahnen haben?
Ein Zuhause, an einem andern Ort
– nicht hier, nicht dort –
sondern genau jetzt.
Ein Zuhause in einem endlosen Netz
aus Geschichten und bunten Farben,
die ihre Wurzeln in diesen Planeten graben
und als Sterne blühen.
Ich erinnere mich manchmal an einen Platz,
den ich weder mit einem Satz,
noch mit tausenden je erklären könnte.
Nur die Stille trägt ihn in meine Hände
– ja, hier ist es laut –
sie flüstert Bände
voller Liebesgeschichten und Schreckensmärchen.
Ist es mutig, zu glauben es gäbe mehr als ein Ich,
vielleicht ein Wir, das zu uns allen Bände spricht?
Ist es mutig, groß zu träumen,
von tausenden verzauberten Bäumen?
In unseren Herzen, die unter Schmerzen und Liebe vom Schatten ins Licht erblühen
oder als Herz dieser Welt, diesen Planeten verführen
zu Farbenpracht und Winden,
erblühen und entbinden.
Ein ewiges Gebären und Sterben,
Sein und Werden,
bis wir am Ende wie Felsen sind,
die die Meeresbrandung sanft und wild durchspült
und die durch diese Erde reisen, als seien sie selbst.
Es ist nicht nur mutig, es zuzugeben.
Erst im Tun der Erkenntnis erwecken sich
die Sterne in unseren Augen zum Leben.
Es fällt mir schwer, manchmal zuzugeben
dass Mut eine Entscheidung ist.
Ich will die Sterne in deinen Augen leuchten sehen
und durch meine – mutig – in Richtung Zuhause gehen.
Marie Bayer
Septembermorgen
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen;
bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.
Eduard Mörike (1804 – 1875)
Vom Übermenschen
Hüte dich, gegen den Wind zu speien.
Ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen.
Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und mancher kann sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche.
Sie verschlingen einander, und können sich nicht einmal verdauen.
Nicht durch Zorn, durch Lachen tötet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere töten!
Aus “Also sprach Zarathustra” Friedrich Nietzsche
Du bist allein?
Du bist allein?
0 glaub es nicht!
Der Engel Atem, Klang und Licht
ersteht in deinem Wort und spricht
und will empfunden sein.
In Form und Farbe,
Lust und Zwist
tut Stein und Tier sich kund,
o Mensch, allein nur, weil du bist,
und nur mit dir im Bund.
Durch deines Seins
verborgenen Ort
geht alle Kreatur
und sucht in dir das Losungswort
auf dumpfer Sinne Spur.
Nicht einen Tag
bist du allein,
o Mensch, die ganze Welt
ist göttlich dir ins Herz gestellt
und will entzaubert sein.
Erika Beltle
Auf der Suche nach dem Geist
Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße
Im Kreis das All am Finger laufen ließe?
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.
Johann Wolfgang von Goethe
HOFFNUNG
Gott hat die Welt
im Schlechten wie im Guten
nicht so bestellt
wie wir es vermuten.
Wir leben in Jahren voll Schrecken
in Ängsten vor Hagel und Brand
und wandern oft trostlose Strecken,
vermissend die göttliche Hand.
Doch weiss ich: In Allem steckt Ordnung,
ist Weisheit und göttlicher Geist,
der selbst in freudlosen Tagen
uns Ruh’ und Erlösung verheisst.
Vertrau auf die Liebe und Güte,
auf höhere Hand und Regie,
auf das Wunder in Bethlehems Hütte,
denn so verzweifelst du nie!
Karl Aurbach (k.aurbach@solnet.ch)
Advent
Ich träumt von einem langen Zug
verhüllter menschlicher Gestalten
und jede eine Kerze trug,
um die sich blasse Hände falten.
Und alle gingen zu dem Licht,
das ferne noch das Dunkel hellte,
ich sah kein einziges Gesicht,
das sich dem Zug entgegen stellte.
Doch wusste ich, dass viele waren
mit Tränen im verhang’nen Blick
und wenig nur mit wunderbarem
Aufschauen zum ersehnten Glück
der noch so fernen Zukunftszeit,
da Menschen brüderlich sich einen.
Und ist der dunkle Weg auch weit,
das Licht wird immer stärker scheinen.
Fritz Salathé
Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt wie balde
sie fromm und lichterheilig wird.
Und lauscht hinaus: den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.
Rainer Maria Rilke
Yo no soy yo (Ich bin nicht ich)
Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.
Soy este
que va a mi lado sin yo verlo,
que, a veces, voy a ver,
y que, a veces olvido.
El que calla, sereno, cuando hablo,
el que perdona, dulce, cuando odio,
el que pasea por donde no estoy,
el que quedará en pie cuando yo muera.
Juan Ramón Jiménez
Aus der Theaterarbeit „Im Dunkeln fischen“
Mengisch gsen ich
Mengisch gsen i mich vo hinde
und lueg mr über d’Schultere.
Mengisch gsen i bis zum Afang zruck,
zom s’Stuna wieda z’finda.
Der Afang isch det,
won i herkomma.
Det, won ich träumt ha,
komm i her.
Mengisch gsen ich.
Mengisch gsen i mich.
Mengisch gsen i mich vo vorn
und lueg grad us.
Mengisch gsen i bis zom End,
zom s’Fürchta lera.
S’End isch det, won i anago.
Det, wo alli erwarted weret,
gang i ana.
Johannes Widmer
Mein Atem
In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut
Sterne lächeln
in meine Augen
Kommen Menschen
mit vielfarbnen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich
Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt
Mein Atem heißt
Jetzt
Rose Ausländer
Zähle die Mandeln
Zähle die Mandeln,
zähle, was bitter war und dich wachhielt,
zähl mich dazu:
Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah,
ich spann jenen heimlichen Faden,
an dem der Tau, den du dachtest,
hinunterglitt zu den Krügen,
die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet.
Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist,
schrittest du sicheren Fußes zu dir,
schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens,
stieß das Erlauschte zu dir,
legte das Tote den Arm auch um dich,
und ihr ginget selbdritt durch den Abend.
Mache mich bitter.
Zähle mich zu den Mandeln.
Paul Celan